"(…) Die Sportgymnastik ist eine Erfindung der Sowjetunion, gedacht als eine Art Ballett mit Handgeräten. Im olympischen Mehrkampf gingen seit 1996 mit einer Ausnahme alle Medaillen an Russinnen, Belarussinnen und Ukrainerinnen. In Russland ist die RSG nationale Angelegenheit – und das nicht erst, seit Olympiasiegerin Alina Kabajewa als mutmaßliche Freundin Putins auf den Sanktionslisten landete, die die USA im Zuge des Angriffskriegs auf die Ukraine veröffentlichte. Die Macht der russischen Verbandspräsidentin Irina Viner geht weit über das aktuell für internationale Wettkämpfe gesperrte Land hinaus. Auch, weil seit dem Ende der Sowjetunion Hunderte der dort ausgebildeten Trainerinnen in der ganzen Welt agieren.

„Sehr jung, extrem dünn, sehr lange Beine, kein Gramm Fett, keine Kurven, keine Hüften, keine Brüste, kein Hintern, also gar nichts,“ so beschreibt Guadalupe Aizaga das Schönheitsideal der RSG. Mit der Auswahl Argentiniens gewann sie bei den Südamerikaspielen 2006 die Silbermedaille. Als Fotografin betrachtet sie Gymnastinnenkörper seitdem oft durch die Linse. Das Schönheitsideal mache nicht nur Anleihen im klassischen Ballett, sondern auch in der Welt der Haute Couture: „Das Modeideal ist in der RSG noch extremer. Und dort ist es grotesk, weil du in diesem Sport neben Beweglichkeit vor allem Kraft brauchst. Für Kraft braucht es Muskeln, aber die darf man auf keinen Fall sehen.“(…)

Ein Blick zum Geräteturnen zeigt, dass Entwicklung möglich ist. Auch hier war das Körperideal bis Ende der 1980er Jahre homogen: möglichst klein, leicht und jung sollten Turnerinnen sein – denn so sahen die Siegerinnen aus Rumänien und der Sowjetunion eben aus. Heute gibt es nicht nur hoch- und ausgewachsene Frauen in der Weltspitze, sondern mit Simone Biles, die vor Sprungkraft nur so strotzt, auch einen Superstar, der mit dem früheren Ideal kaum etwas gemein hat. (…)"